Weites Herz, klarer Horizont
„Rüm Hart, Klaar Kimming“ – weites Herz, klarer Horizont. Diese friesische Devise begegnete mir während meines Nordseeurlaubs kürzlich immer wieder. Auf Fahnen, Schiffen, Häusern und auch auf Seefahrergrabsteinen. Nachdem ich mich ein wenig mit der Bedeutung beschäftigt hatte, faszinierte mich zunehmend die Lebensweisheit, die darin liegt.
Dieses Wort wird den welterfahrenen inselfriesischen Kapitänen zugeschrieben. Die Kimme ist die Linie, an der sich Meer und Himmel berühren. Eine klare, scharf gezeichnete Kimme versprach gutes Wetter und damit eine sichere Seefahrt, als die nordfriesischen Männer im 19. Jahrhundert in See stachen, um bis hinaus aufs Eismeer auf Walfang zu gehen. Es war ein hartes, risikoreiches Leben. Aber auch ein Leben, bei dem man viel herumkam, fremde Welten kennenlernte und Menschen aus anderen Kulturen begegnete. Daraus entwickelte sich eine Mentalität, die alles andere als engstirnig, voreingenommen und ängstlich war. Vielmehr führten die Erfahrungen fernab der Heimat zu Weltoffenheit, Weitsichtigkeit und einem vorurteilsfreien Gesichtskreis.
Schon von früher Kindheit an wurde großen Wert auf eine umfassende Ausbildung gelegt, dabei wurde das alte Seefahrerwissen von Generation zur Generation weitergegeben. Sie waren Meister der Navigation, und so stiegen die friesischen Seefahrer meist schnell in Führungspositionen auf. Bis heute zeugen die vielen Kapitänshäuser davon. Weil sie um ihre eigenen Kompetenzen und ihre Verbundenheit zur Heimat wussten, konnten sie ein „rüm Hart“, ein weites Herz entwickeln und dem Fremden in selbstbewusster, aufgeschlossener Weise begegnen. Diese Mentalität ist nach wie vor spürbar.
Die vielen Gefahren auf weiter See und das entbehrungsreiche, leidgeprägte Leben auf den Inseln führten dazu, dass die Menschen ein gottesfürchtiges Leben führten und als fromm galten. Und hier bekommt der zweite Teil des Leitspruches „klaar Kimming“ einen tieferen Sinn. Der Wunsch, stets eine klare Sicht, einen deutlichen Horizont vor Augen zu haben, geht über die eigentliche Seefahrt hinaus und bezieht sich auch auf die Lebensreise. Um sicher ans Ziel zu kommen, benötigt man auch hier die Orientierung an festen Maßstäben und einen unverdeckten Blick dorthin, wo sich das Irdische und das Himmlische berühren.
Beides, ein weites Herz und einen klaren Horizont, wünsche ich mir auch für unsere Studierenden, die weltweit in verschiedensten „Gewässern“ unterwegs sind und dabei anderen Kulturen und so manchen Herausforderungen begegnen. Als ESCT (European School of Culture and Theology) möchten wir sie darin fördern, die nötigen Kompetenzen und innere Weite zu entwickeln. Unsere Dozierenden geben ihnen mit ihren Erfahrungen sozusagen ihr „Seefahrerwissen“ weiter.
Wie gut, dass jeder Einzelne von uns und auch die AWM sich auf dieser Reise immer wieder vertrauensvoll an den eigentlichen Kapitän, der Herr über Wind und Wellen ist, wenden darf: „Wir wollen den Blick auf Jesus richten, der uns auf dem Weg vertrauenden Glaubens vorausgegangen ist und uns auch ans Ziel bringt“ (Hebräer 12,2).
Fotos: Kristaps Ungurs, Annie Spratt / unsplash.com