Was heißt das konkret?
Ich genieße es immer, mit Kindern Zeit zu verbringen. Sie sind in allem einfach unverblümter als Erwachsene und erfrischend ehrlich. So fragte ich kürzlich den zehnjährigen Sohn einer Bekannten, ob er denn schon wisse, welchen Beruf er eines Tages mal ergreifen wolle. Wie aus der Pistole geschossen lautete die Antwort: „Schönheitschirurg.“ Das weckte mein Interesse, und so erkundigte ich mich nach der Motivation hinter diesem doch eher ungewöhnlichen Berufswunsch. Der Junge erklärte mir daraufhin: „Weißt du, ich kenne viele Menschen. Und die meisten davon sind echt hässlich. Dagegen möchte ich etwas tun.“
Es gelang mir nur bedingt, mein Amüsement zu verbergen. Dennoch: Ich wollte es genauer wissen. Daher fragte ich ihn: „Was würdest du an meinem Gesicht ändern, um mich schöner zu machen?“ Hierauf schien dem perplex dreinblickenden Knaben keine vernünftige Antwort einzufallen. Uns beiden dämmerte: Er war zwar in der Lage, Hässliches als hässlich und Schönes als schön zu benennen, hatte sich aber nie gefragt, nach welchen Kriterien er dieses Geschmacksurteil eigentlich jeweils fällte. Hinzu kam noch die Schwierigkeit, dass ich ihn indirekt aufgefordert hatte, ein ihm bekanntes Gesicht gedanklich in ein ihm unbekanntes zu verwandeln, welches am Ende jedoch ästhetisch höherwertig sein sollte als Ersteres. Kurz: Es fehlte die Konkretion.
Dieses Problem ist auch im theologischen Kontext nahezu allgegenwärtig. Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind dazu herausgefordert, ein Zeugnis in dieser Welt zu sein (vgl. Matthäus 5,13-16), d.h. sich zu aktuellen Fragestellungen christusgemäß zu verhalten. Die Schwierigkeit dabei: Die Bibel spricht nicht über Impfungen, Klimawandel, autonomes Fahren, Stammzellenforschung, Internet der Dinge, Transgeschlechtlichkeit, Künstliche Intelligenz, Tempolimit, Industrie 4.0, Cancel Culture oder viele andere Themen, die den öffentlichen Diskurs heutzutage prägen. Vielmehr spricht die Bibel häufig von abstrakten Idealen, die jedoch der Konkretion im Leben einzelner bedürfen.
Nun gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen: Einerseits kann man angesichts der vielen Fragestellungen resignieren und sich auf eine abstrakte und somit weltfremde Frömmigkeit zurückziehen. Andererseits besteht jedoch auch die Möglichkeit, sich an der Konkretion biblischer Ideale angesichts der aktuellen Fragestellungen zu versuchen. Dies bedeutet, sich Gedanken über Kriterien für ein sinnvolles Verhalten im jeweiligen Kontext zu machen und auf diese Weise ein Bild zu entwickeln, zu dem hin sich das Gesicht der Welt positiv verändern kann.
Ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt davon, wie Studierende an der AWM genau dieses Wagnis eingehen – egal, ob im Rahmen von sozialdiakonischen oder evangelistischen Projekten, in der Entwicklungshilfe, im Gemeindedienst, in der Erwachsenenbildung, Jugendarbeit oder im Mentoring, Coaching bzw. der Seelsorge. Besonders spannend ist es daher für mich, studiengangbezogene Praxisprojekte begleiten zu dürfen. Die hierbei gewonnenen Einblicke lassen mich immer wieder neu fragen: Wo kann ich mich als Werkzeug zur Konkretion für Gottes Ideale zur Verfügung stellen?
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