Ein Zacken aus der Krone?

In den letzten 500 Jahren der Menschheitsgeschichte finden sich zwei seltsam auseinanderlaufende Linien: Auf der einen Seite brachte wissenschaftliche Forschung immensen technologischen Fortschritt, durch den wir die Welt um uns entdecken, begreifen und gestalten können. Damit verbunden ist die tiefsitzende Überzeugung, dass wir unserem Schicksal nicht ausgeliefert sind, sondern mit Entschlossenheit und Erfindergeist Krisen jeglicher Art überwinden und die Welt verbessern können. Der menschliche Fortschritt scheint unaufhaltsam.

Auf der anderen Seite kamen über die Jahrhunderte Weltbilder ins Wanken. Die kopernikanische Wende ordnete den Himmel neu, die Erde war nicht mehr Mittelpunkt des Universums. Erkenntnisse in der Biologie, der Genetik und den Neurowissenschaften stellen für manche die einzigartige Rolle des Menschen in Frage. Sind wir die Krone der Schöpfung oder nur ein Lebewesen unter vielen? Vielleicht sogar eines, das der Welt mehr schadet als nützt?

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Welche Aufgabe bleibt dem Menschen, wenn Maschinen vielerorts das Handwerk ersetzen, Computer menschliche Denkleistung – nicht nur im Schachspiel – übertrumpfen? Immanuel Kant wollte den Wert des Menschen bewusst nicht an seiner Nützlichkeit festmachen, sondern an seiner Fähigkeit zu vernünftigem und moralischem Handeln. Gesellschaftliche Entwicklungen – nicht nur der letzten Jahre – zeigen, wie schnell wir bereit sind, einander diese Fähigkeiten abzusprechen. Lange Zeit blieben Kreativität und Phantasie Bastionen menschlicher Einzigartigkeit. Vor Kurzem gewann ein von künstlicher Intelligenz erzeugtes, anonym eingereichtes Bild einen Kunstwettbewerb (oben eingefügt). Diese Technologien sind noch unvollkommen, und doch fühlen wir uns unwillkürlich in einer Konkurrenzsituation.

Das biblische Menschenbild verankert unsere Würde an anderer Stelle. Geschaffen im Ebenbild Gottes muss sich der Mensch nicht qualifizieren, um wertvoll zu sein. Die Zuwendung und der Zuspruch Gottes definieren ihn:

Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Wer ist er schon, dass du dich um ihn kümmerst! Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, mit Ehre und Würde hast du ihn gekrönt. (Psalm 8,5–6)

Als Antwort auf die Verwunderung des Psalmisten darüber, was uns Menschen denn so besonders machen soll, steht hier keine zukünftige, leistungsabhängige Ehrung, sondern eine bereits vollzogene Krönung. Auch wenn diese Krone einmal schief sitzt, bricht aus ihr kein Zacken heraus. Gott ist vergebungsbereit, er krönt uns auch mit „Güte und Erbarmen“ (Psalm 103,4). Im Psalm 8 schließt sich an diesen Zuspruch die Bestätigung des Auftrags Gottes an den Menschen:

Du hast ihn zum Herrn eingesetzt über deine Geschöpfe, die aus deinen Händen hervorgingen; alles hast du ihm zu Füßen gelegt. (8,7)

Gott setzt als Schöpfer und als Auftraggeber den Rahmen unseres Handelns. Wir müssen weder schicksalsergeben noch fortschrittsgetrieben sein. Verantwortungsvolles, hoffnungsvolles und schöpferisches Handeln in dieser Welt erwachsen aus der Beziehung zu dem, aus dessen Händen alles – auch wir – hervorging.

Daniel Böhm
Daniel Böhm verantwortet seit Oktober 2020 den Bereich Öffentlichkeitsarbeit an der AWM. Zuvor arbeitete er als Grafikdesigner in einer mittelständischen Werbeagentur und lebte mit seiner Familie als Missio ...
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Bildnachweis: Jason M. Allen "Théâtre D'opéra Spatial" via midjourney

30.09.2022