Doppelter Espresso statt kalter Kaffee
Seit Pfingsten in Jerusalem, vor mehr als 2.000 Jahren, wächst die Gemeinde Jesu in vielen Teilen der Welt. Seit der modernen Missionsgeschichte erleben wir in besonderer Weise – wie Andrew Walls beschreibt – die Übersetzbarkeit des Evangeliums in andere Kulturen und Sprachräume. Das geistliche sowie zahlenmäßige Wachstum der Gemeinde Jesu auf der Welt hat in dieser Zeit zugenommen, wie nie zuvor in der Geschichte.
Relativ unbemerkt in der Gemeindewelt haben Missionsstudien (Missiologie), mit Hilfe von Theologie, Kommunikations-, Kultur- und anderen Sozialwissenschaften versucht, die Ausbreitung des Evangeliums und das Wachstum der Gemeinden zu reflektieren und daraus zu lernen. Viele Erkenntnisse aus der missionarischen Arbeit wurden Bestandteile der Ausrüstung für neue Generationen von Missionaren weltweit. Auch aus dem, was wenig Erfolg hatte oder heute kritisch hinterfragt wird, konnte man lernen.
Nach jahrzehntelangem, starken Gemeindewachstum im globalen Süden und gleichzeitig einer immer post-christlicher werdenden Gesellschaft in Europa wird Mission – im Sinne von „from the West to the Rest“ – heute aber oft hinterfragt. Damit wird unausgesprochen auch die Relevanz der „Mission von damals“ für unsere heutige Gemeindelandschaft infrage gestellt. Sind nun die Erkenntnisse, Reflexionen und Erfahrungen aus dem weltweiten Missionsgeschehen für Europa „Schnee von gestern“? Sind sie „Auslaufmodelle“, aus der Zeit gefallen, wie Verbrennungsmotoren, nachdem in Zukunft nur noch Elektroantrieb zugelassen werden soll?
Dazu bemerkte ein Missiologe mit viel Gemeindegründungshintergrund in Mitteleuropa bei einem Austausch an der AWM: „Die Erkenntnisse der Missiologie sind absolut zukunftsnotwendig für die Gemeinde in Europa!“
Schon die Mission der ersten Gemeinde musste sich mit Kulturen auseinandersetzen (z.B. Apg. 15). Bereits damals bemerkte man, dass kulturelle Unterschiede und Grenzen einen direkten Einfluss auf die Ausbreitung des Evangeliums und das Wachstum von Gemeinden haben.
Heute wird uns das durch verschiedene Kulturmodelle, z.B. basierend auf unterschiedlichen Werten, Kommunikationsmustern oder Kultur-dimensionen, verdeutlicht. Geert Hofstede brachte mit der „Kulturzwiebel“ – dem Modell kultureller Schichten, wie Symbole, Helden, Rituale und Werte – die tieferliegenden, oft verborgenen Ebenen der Kulturen ins Bewusstsein. Einsichten, die daraus entstanden, verbesserten unser Verständnis von interkultureller Kommunikation, Kontextualisierung oder Leitung von multikulturellen Gruppen.
Missionare, die sensibilisiert für kulturelle Unterschiede nach Europa zurückkehren, sehen sehr schnell, dass die Weitergabe des Evangeliums auch in Europa, täglich, auf interkulturelle Grenzen trifft und diese oftmals nicht überwinden kann. Unterschiedliche Generationen unterscheiden sich heute in ihren Werten, Ritualen und Helden so grundlegend, dass sie oft andere Kulturen darstellen. So manche Gemeindekultur unterscheidet sich so stark von ihrer Nachbarschaft, dass neue Menschen sich „fremd“ fühlen.
Christen, die heute sprachfähig in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft sein wollen, stehen vor ganz ähnlichen interkulturellen Herausforderungen wie Missionare im Ausland. Das, was in den letzten 200 Jahren in und aus der Mission gelernt wurde, ist heute für unsere individualistische, post-christliche Welt höchst relevant. Auch für die Gemeindesituation in Europa bietet die Missiologie Modelle und Erfahrungen zum Entschlüsseln interkultureller Situationen sowie Handwerkszeug zur Kontextualisierung und Kommunikation des Evangeliums. Ebenso ist das Leiten multikultureller Gruppen für viele Gemeinden heute ein Schlüsselthema.
Das Evangelium ist die Kraft Gottes zur Errettung (Römer 1,16). Ähnlich wie die verschiedenen Kulturen der Welt den Kaffee – in seinen verschiedensten Formen – als Getränk angenommen haben, ist auch die bewusste Verkündigung des Evangeliums immer wieder eine neue Variante des gleichen Getränks – ob Filterkaffee, Aufguss im Cezve (Mokkakännchen) oder Espresso. Die Kraft liegt im Evangelium selbst. Die kulturgerechte Form der Zubereitung sorgt dafür, dass es örtlich angenommen – angefertigt und ausgeschenkt – werden kann. Damit das Evangelium in Europa nicht zum „kalten Kaffee“ wird, sind Missions-wissenschaften und Missionserfah-rungen ein wertvoller Schatz – Handwerkszeug, damit auch den Europäern „der Kaffee immer wieder neu schmeckt.“
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